Die Straße von Korinthos nach Patras galt gemeinhin nicht als
sonderlich reizvoll. Touristen sahen zu, die seit Jahren von
permananten Baustellen übersähte und damit gefährlichste Straße
Griechenlands so schnell wie möglich und sicher hinter sich zu bringen. Inzwischen ist die Autobahn nach Patras fertig - Grund
genug, noch schneller an Egio vorbeizufliegen. Reiseführer taten ihr Übriges. Hinweise wie dieser: “Egio lohnt nur dann einen
Abstecher, wenn man von hier mit der Fähre nach Agios Nikolaos auf dem Festland übersetzen will...” verlitten nicht gerade
dazu, dort wirklich Station zu machen. Da nun auch noch seit vielen Jahren der Hafen von Egio ausgebaut wird und dadurch
die Fährverbindung vermutlich bis zum Sankt-Nimmerleinstag unterbrochen ist, kommen Touristen auch rein zufällig kaum auf
die Idee, die Stadt zu erkunden. Um es kurz zu machen, es lohnt sich dennoch. Wir waren privilegiert, ein Freund hatte uns
empfohlen, Kontakt mit Leonidas Mavroudis, einem Bauingenieur und Kommunalpolitiker, aufzunehmen. Von ihm erfahren wir,
dass sich Egio in den letzten Jahrzehnten zum Bananen-Umschlaghafen Nr. 1 in
Griechenland entwickelt hat. Deshalb jetzt auch die Ausbauarbeiten am Hafen. Aber
schon vor 150 Jahren war Egio der größte griechische Exporthafen für Rosinen. Die
süßen Korinthen und
Sultaninen waren so begehrt,
dass gleich nach der Ernte
immer schon mehrere Schiffe
auf Reede lagen und darauf
warteten, bis die Rosinen
endlich in den zahlreichen
Lagerhäusern am Hafen
eintrafen und verladen
werden konnten. Den Rosinenexport gibt es immer noch, er hat in
den letzten Jahren sogar wieder deutlich zugenommen. Die schönen
alten Lagerhäuser wurden durch Neubauten außerhalb der Stadt
ersetzt, aber
vor dem Verfall
gerettet und
bieten heute
viel Raum für
Nachtbars, Restaurants, Läden aller Art. Leonidas schleppte uns
sogleich zum damaligen Bürgermeister der
Stadt, Stathis Theodorakopoulos, der uns
mitten in einer Besprechung etwas von den
touristischen Highlights der Egialia
vorschwärmt. Und der Mann hat Recht.
Egio zerfällt in zwei Teile – die Unterstadt
und die Oberstadt. Fährt man vom Hafen die
Odos Michalopoulou – eine Straße mit mehr
als 100jährigem Pflaster (die
Straßenschäden wurden erst durch
neuzeitliche Arbeiten verursacht!) – hinauf in die
Oberstadt, kommt man direkt zum Archäologischen
Museum der Stadt. Es wurde in der früheren Markthalle
eingerichtet.
Das Gebäude stammt vom deutschen Architekten Ernst
Ziller, der in Egio besonders aktiv war. An etwa 20 Häusern
der Stadt hat er mitgewirkt. Nach dem schweren Erdbeben
1995, bei dem in Egio 28 Personen starben, wurden diese Häuser glücklicherweise als
besonders erhaltenswert eingestuft, so dass Egio heute über eine beneidenswerte
Sammlung neoklassizistischer Gebäude verfügt. Eines davon, nicht weit vom Rathaus,
kaufte der Athener Schauspieler und Regisseur Ahanassis Theologos. Er schaffte es,
zusammen mit einigen Freunden, null Fördermitteln und viel Enthusiasmus, daraus ein
Theater mit reichlich 200 Plätzen zu machen, das heute fast allabendlich auch in der
Krise gut gefüllt ist. Theologis selbst spielt in einer fast immer ausverkauften
Inszenierung “Marx in Soho” den Marx. Fazit: “Irgendwie haben die Leute das alles
nicht so richtig verstanden. Wir müssen vermutlich von vorn anfangen.” Die Stadt
macht trotz ihrer geringen Größe einen
weltoffenen und modernen Eindruck.
Sehr schön ist der Blick von der Platia
Iroon – dem Platz der Helden – hinunter
zum Meer. Cafés und Restaurants laden
zum Entspannen ein.
Egio wird vermutlich in den nächsten Jahren noch mehr in den Blickpunkt rücken,
denn nicht weit vor der Stadt wurden offenbar Reste der in der Antike
versunkenen Stadt Hellike (Elliki) gefunden. 2003 begann die Archäologin Dora
Katsonopoulou mit systematischen Ausgrabungen. Historiker erhoffen davon
sensationelle Erkenntnisse über die seit 373 v. u. Z. nach einem schweren
Erdbeben von einer gigantischen Flutwelle verschluckten antiken Stadt.
Nach der Strukturreform per 1. 1. 2011 wurde Egio Sitz der neuen Großgemeinde
Egiália (Aigiália), die sich über etwa 50 km von Lampiri bis nach Eghira am Korinthischen Golf erstreckt. Die Küstenlinie ist
sogar über 60 km lang. Die Verwaltung der neuen Gemeinde wirbt mit dem
Spruch „Die unerwartete Egiália“. Das ist durchaus richtig, denn vieles, was
die unglaublich schöne Landschaft zu bieten hat, erwartet man wirklich nicht.
Da sind zum einen herrliche
Strände, die von feinem
Sand bis zu scharfen Klippen
alles zu bieten haben. Es gibt
in einigen Küstenorten sehr
schöne Strandpromenaden
mit viel Leben im Sommer,
aber auch Tavernen, die im
Winter „durchhalten“. Zum
anderen ist es die
unmittelbare Nähe zu den bis
knapp 2000 Meter
aufragenden Gebirgen im Hinterland. Von jedem der Küstenorte aus ist man innerhalb von maximal 15 Minuten in einer
aufregenden Bergwelt mit vielen schönen Ausflugszielen. Klöster, Wasserfälle, Weingüter, Naturschönheiten. Jedes Seitental
hat seinen eigenen Reiz. Von Egio aus bietet sich eine Fahrt zum Kloster „Taxiarchon“ an, von
Diakofto zur Plataniotissa – der Kirche in den Wurzeln von drei Platanen, von Eghira aus zum
einzigen antiken Theater mit Meerblick (Foto).
Urige Taverne „O Vrachos“ - der Fels in Eghes oberhalb des antiken Theaters von Eghira. Die
Taverne ist das ganze Jahr täglich geöffnet. Leckere Spezialitäten aus dem Backofen wie „Lamm
Frikassé mit Löwenzahn“ - geradezu sensationell! Triandafyllos, der Wirt, der zwischenzeitlich den
Kamin heizt - Funken hinterließen Löcher in seinem Hemd - und Sofía,
seine Tochter, freuen sich immer über Gäste. Im Sommer organisiert
der rührige örtliche Kulturverein immer Freitags Freilichtkino mit
lustigen alten griechischen Filmen - auch für nicht Griechisch
Sprechende sehr amüsant! Dazu gibt es Souvlaki.
Leonidas Mavroudis spricht mit Begeisterung von den
außergewöhnlichen Weinen der Egialia und steuert schnurstracks zum
Weingut seines Freundes und Präsidenten der Griechischen
Winzervereinigung Angelos Rouvalis, das oberhalb von Egio wie ein
Kloster an einem Berg hängt. Beiläufig erzählt er, dass das Projekt von
ihm stammt. Rouvalis wollte
ein Weingut, das ohne
Pumpen auskommt. So
erdachten beide das
vertikale Prinzip der
Produktion. Anlieferung der
Trauben ganz oben im
sechsten Stock, Waschen
und Quetschen der Trauben darunter, Gärung wieder ein
Stock tiefer, Abfüllung im „Erdgeschoss“, Lagerung im
Keller usw. Die Technologie ist dabei allerdings nur ein
Detail, wenngleich kein unwesentliches. Die Weine von
Angelos Rouvalis sind inzwischen europaweit bekannt.
Sein Roditis „Asprolitho“ bekam 2010 in Berlin eine
Goldmedaille. Das Geheimnis der guten Weine der Egialia
liegt im besonderen Mikroklima der Hügel oberhalb des
Korinthischen Golfs. Das wusste man offenbar schon in der
Antike.
Fazit: Es lohnt sich durchaus, einen Abstecher nach Egio
zu machen. Hat die Fahrt von Korinth Richtung Patras zu
sehr genervt, dann nichts wie ‘runter vom Highway und
Pause in der Aigialia, der “Unerwarteten” - zumal die
Gegend reichlich nette Übernachtungsmöglichkeiten bietet.
Wir entschieden uns für die “Harmony-Apartments” in
Longos. Sehr zu empfehlen!
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© Wilfried Jakisch 2011/2019